Architektur

“Das Streben des Architekten”, schreibt der Verfasser der Einweihungsschrift von 1912, “ging dahin, neben voller Betonung des Zweckmäßigen, Einfachen, das Gymnasialbauten angebracht erscheint, doch auch der architektonischen Schönheit innerhalb der zur Verfügung stehenden Mittel ein gebührendes Gewicht beizulegen; war er sich doch wohl bewusst, dass aus diesen Anstalten Träger der nationalen Kultur hervorgehen sollen, die neben der Erziehung eines entsprechenden Wissens und Könnens in ihren Jugendtagen sich auch einen gefestigten Sinn für den Wert des Schönen errungen haben sollen, das nicht als ein unverzinslicher Luxus betrachtet werden darf, der nur Ausgaben verursacht, sondern das vielmehr zur Beglückung und Lebenserstarkung des Menschen in hohem Maße beizutragen geeignet ist. Es gehört zur Ergänzung unserer gesamten Kultur und bedeutet einen greifbaren Wert, der neue Werte schafft. “Stellt sich die Frage, wie denn nun der Architekt die Forderung erfüllt hat, “vor allem jeden Kasernismus aus dem Innern und Äußern der Baugruppe” zu verbannen, und hier füllt auch gleich das Stichwort: “Baugruppe”. Die Aufgabe, einen Komplex von zwei Schulen mit “ca. 1500 Schülern” zu schaffen, wurde nämlich so gelöst, dass dieser entsprechend dem inneren Programm in Bauteile aufgegliedert wurde, die sich um einen Innenhof gruppieren und mit ihren Klassentrakten dem gebogenen Verlauf der östlich und westlich begrenzenden Straßen folgen.“Die gesamte Baugruppe weist als beherrschende Linie die Horizontale auf, die belebt wird durch (eben diese) leichte Biegung der Grundrisslinien. An geeigneten Stellen wird durch kräftige Vertikalen das architektonische Gleichgewicht wieder hergestellt, wie beispielsweise durch den Turm des (Oskar-von-Miller-) Realgymnasiums und durch die Treppenhaustürme an den Turnhallen. Das Kgl. Maximilians-Gymnasium hat als Betonung einen Treppengiebel mit Dachreiter erhalten, der sich aber dem Turm des Realgymnasiums als der Dominante der gesamten Baugruppe unterordnet.”(Festschrift 1912)

Für die Diskussionsrunde ergaben sich folgende Fragen. Unentbehrlich für ein tieferes Verständnis schien uns der kunstgeschichtliche Hintergrund: Kann man das Gebäude mit den Zweckbauten der Epoche allgemein und den Schulbauten besonders vergleichen? Inwiefern ist es ein Jugendstilgebäude? Ist es noch dem Historismus verpflichtet? Wie und mit welcher Absicht hebt es sich von früheren und gleichzeitigen Schulbauten ab? Gibt es nicht einen typischen Schulbaustil jener Zeit? Sind andere Schulbauten nicht doch ornamentreicher, weniger ruhig? Sind um 1912 überhaupt Türme üblich, nicht nur Turmaufsätze? Das Coburger Renaissance-Gymnasium von 1605 hat einen 36 m hohen Turm, da wollte der Herzog repräsentieren. Ist ein drei- oder vierflügeliger Gebäudekomplex mit Turm vielleicht Universitätsbaustil der Renaissance (Würzburg, Altdorf?) Und schließlich: Was repräsentiert der Turm bei uns? Wir riefen Prof. Dr. Lieb an, einen Kunsthistoriker und ehemaligen Schüler des Max-Gymnasiums. Er wollte nicht ausschließen, dass sich das Bildungsbürgertum mit diesem 48 m hohen Turm zu repräsentieren wünsche. Vor allem aber sollte seiner Meinung nach ein städtebaulicher Akzent gesetzt werden, auffallend für den, der sich vom noch weithin unbebauten Norden her der Stadt nähert. Auch A. Schmidt hatte in seiner Facharbeit dargelegt, dass die Anlage ja am damaligen Stadtrand (an Stelle des damaligen Landesgestüts) entstand und mit der etwa gleichzeitigen Erlöserkirche einen (vorläufigen) Abschluss der wichtigen Nordachse Zentrum/Ludwig-/Leopoldstraße bildete, ein Gedanke, dem schließlich auch das – als missglückte Lösung empfundene und inzwischen wieder abgerissene – Hertie-Hochhaus seine Gestalt verdankte.Unter uns wurde auch die Meinung geäußert, der Gesamtcharakter des Komplexes habe etwas von einem “Landschloss der Bildung in Schwabing”, im Gegensatz zu anderen Schulen, die Bildungsburgen oder -kasernen seien. Dies bewirkten nicht nur der großzügige Verbrauch von Platz, sondern auch die niedrigen Trakte um den großen Hof, in der Mitte der Brunnen mit den Kastanien, dazu die einladenden Säulenvorhallen und eben der Turm mit seinem Bogenrundgang, den ein Romantiker gerne “Söller” genannt hätte.Ohne Zweifel hat der Architekt zusätzlich das ihm vorgegebene Bauprogramm den Möglichkeiten der großzügig bemessenen Grundstücksfläche (ca. 12000 m2) angepaßt. Außerdem bediente er sich einer wohldurchdachten Farbgebung, die man heute wieder nachempfinden kann, denn: “Die gesamte Baugruppe hat leicht gelblichen Verputz erhalten, mit welchem das Rot des Daches, das Grün der Fensterläden, das Weiß der Fensterkreuze und das lichte Grau der verschiedenen Plastiken und der Betonsockel einen freundlichen, heiteren Eindruck hervorrufen sollen, der sich noch steigern wird, wenn die Pflanzungen an Mauern und Einfriedungen, an den Türmen usw. mit Efeu, Crimson rampler und wildem Wein die Baugruppen in ein Grün eingesponnen haben werden, das sich im Herbste teilweise in ein leuchtendes Rot verwandeln wird. Erst dann wird der beabsichtigte Gesamteindruck erreicht sein.” Und so stellte sich ein Mitarbeiter auch vor: “Eine Auffahrt von Kutschen mit biedermeiergewandeten Gästen schiene mir der richtige Auftritt für dies Szenenbild.” Und weiter: “Der gemütvollen Ruhe des Hofes entspricht die Behäbigkeit der liegenden Löwen zu seiten der einladenden Freitreppe, die nicht zu einer abschließenden Tür, sondern zur einer aufnehmenden Loggia führt.”

Teilnehmer des Grundkurses Architektur kennen den berühmten Satz “form follows function”, und wir fanden, dass man den Gesamteindruck des Baus mit dem Problem der Funktionalität kontrastieren könnte. Paßt vielleicht – so wurde gefragt – das Schlagwort “zurückgenommene Funktionalität?” Gemeint ist die Dreigliederung des Maxgymnasiums in Personal-, Klassen- und Fachraumtrakt und die Mittel, mit denen diese Teilung wieder überspielt wird – Wiederholung gleichgestalteter Funktionsteile (Fenster), durchlaufende Ornamente usw. Sicher lassen sich die inneren Funktionen der Bauteile aus der Gliederung des Gebäudes ablesen oder doch ahnen. Die zusätzliche Leistung des Architekten bestand dann darin, die Funktionen “Nutzung/ Zweck”, “Konstruktion/Material/Farbe” und ” Bedeutung/Symbolcharakter” quasi “unter einen Hut zu bringen”, dem Ganzen ein Gesicht zu verleihen oder schlicht eben Architektur zu bauen. Hier stellten sich weitere Fragen: Unter einem Stichwort wie “Maß und Raum” – so wurde vorgeschlagen- könnte man das sammeln, was die große Baumasse gliedert und doch Gleichförmigkeit vermeidet, alles Ornamentale, aber auch die Größenunterschiede der Flügelbauten, vielleicht die Walmdächer, unter Umständen auch perspektivische Mittel, z. B. die geringe Fensterhöhen in den Obergeschossen unseres Südflügels.Auch wirke der Giebel von der Leopoldstraße aus anders als von der Morawitzkystraße. Ein eigenes Kapitel wäre das, was man überschreiben könnte: “Säulen, Bogen und Gewölbe” oder – etwas sentimental ausgedrückt – “Freier Atem/Behutsamkeit/ Wachstum und Geborgenheit.” Die Biegung der Straße, die der Klassentrakt aufnimmt, sich gleichsam natürlich von Norden nach Süden entwickelnd, und die schwingenden Kurven der Treppen- ist das nicht ein Ausdruck von Behutsamkeit, mit dem man zu Beginn des “Jahrhunderts des Kindes” den Schülern begegnet, um ihr Wachstum nicht mit Geraden und Kanten zu verletzen? Darum auch die Entasis (Schwellung) der Säulen. Die Eingangshalle – so wurde überlegt- ist nicht nur von dem bergenden Gewölbe geprägt. Links und rechts die Brüstungen mit Säulen und Rundbögen nehmen den Raum aus der Realität heraus, lösen die Wand fast theaterhaft, aber nicht theatralisch auf, als ob der Schüler aus der Gegenwart in eine Welt für sich gehen solle. (Ist die Bildungsstätte eine Gleichniswelt, umschrieben mit den Fußbodenmosaiken?) Die Eingangsloggia wird besonders erwähnt: Aus der Geborgenheit der Schule schaut man hinaus ins Leben, in das einen der Direktor mit der Abiturrede entläßt; man kann sich ein paar Schritte vorwagen und auf den Stufen theatrongleich sitzen, die Welt ist draußen, man atmet frei, erwartungsvoll, um sich nach fünfzehn Minuten wieder ins Innere zurückzuziehen. Anders die Vorhalle zum Hof, auch hier das Zugleich-Drinnen-und-Draußen, aber als Vorbau luftiger, lockerer, daher auch den Landschlosscharakter des Hofes mitbestimmend. Und der “große Atem” des Turnhallengewölbes gehört hierher. Den plastischen Details der Fassaden und des Hofes und der Innenausstattung widmet auch die Festschrift 1912 einige Absätze. Sie weist auf die Mosaikzifferblätter des Turmes hin, auf die Plaketten von Mattes über dem Eingang des Maxgymnasiums (mit den Bildnissen des Königs Maximilian II. und des Prinzregenten Luitpold), auf die Kartuschen des Giebels, auf das Lunarium und auf die Tierreliefs an den Eckpfeilern des Gebäudes, die die “charakteristischen Schülereigenschaften” (welche bitte?) darstellen, von den Bildhauern Albertshofer, Fischer und Kindler. Erwähnt werden auch die Eingangsportale selbst und im Hofraum die “Kapitolinische Wölfin” mit Romulus und Remus, beide von Albertshofer.
1912 noch nicht aufgestellt war der Marabu-Brunnen mit der Weltkugel innerhalb der Baumgruppe im Hof, vermutlich von Mattes. Von der Innenausstattung erwähnt der Bericht die Säulen aus Ruhpoldinger Marmor und Muschelkalkbeton. Schade, dass die Ölgemälde aus der Kgl. Galerie Schleißheim nicht mehr wie einst die Treppenhäuser beider Schulen schmücken! Betont gegenüber der bewusst schlichten Ausstattung der Klassen- und Fachräume – und wer wird schon die einst fest eingebauten Lehrerpodien mit ihren Kathedern vermissen? – wurden Rektorat, Lehrerzimmer und die Turnhalle, die durch Material und Farbe beruhigend und bergend erscheinen. Eine Stimme aus dem Kollegium: ” Welcher Geist wird aber vorausgesetzt, wenn man die steife Tischordnung und die hohen Lehnen im Lehrerzimmer bedenkt – samt hervorgehobenem Direktorenstuhl? Zum Schluss sei gleichnishaft auf den bunten “Dschungel” hingewiesen, der als Wandbemalung im Gang des Dachgeschosses von Schülerhand entsteht. Lebt hier ein Gebäude in der kreativen Veränderung durch seine “Bewohner”, wie z.B. der Maler Hundertwasser gefordert hat, oder dokumentiert sich “eine Art von Geborgenheit, die an Drogen mahnt – exotisches Entgrenzen und Umfangen zugleich?”

S. B. Weiß